Seminar für Philosophie, www.brix.de - Hauptseite

Der Begriff der Reue in Kierkegaards Philosophischen Bissen

Hausarbeit im Proseminar »Sören Kierkegaard: Philosophische Bissen« (Dozent: Reinhard Loock);
Sommersemester 1992 - Seminar A für Philosophie, Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig

Inhalt


Non, je ne regrette rien! (Chanson v. Edith Piaf, 1915 - 1963)


1. Einleitung

Die »Philosophischen Bissen« (PB, Hinweise zur Aufschlüsselung der Abkürzungen finden sich im Literaturverzeichnis) Kierkegaards, die er selbst nur herauszugeben vorgibt und seinem Alias Johannes Climacus zuschreibt, stellen eines der Hauptwerke Kierkegaards dar und wurden 1844 herausgegeben. Sie sind der Versuch, das Christentum und die Religiosität philosophisch zu bestimmen.

Das Werk ist ein radikaler Abstoß der herrschenden Hegelschen Philosophie und stellt den Mensch als Einzelnen in den Mittelpunkt seiner Anschauung. Nur ein Jahr nach Feuerbachs »Grundsätzen der Philosophie der Zukunft« sind diese schon von Kierkegaard auf seine Weise fortgedacht, damit weiter fort von Hegel, in dessen großen Perspektiven der einzelne Mensch fast spurlos verschwand.

Kierkegaard veröffentlicht auch sein viertes Buch unter einem Pseudonym. Im Jahr zuvor waren bereits »Entweder - Oder«, »Furcht und Beben« sowie »Die Wiederholung« ebenfalls unter Pseudonymen veröffentlicht. Einzig der Name Climacus wird in seiner Verwandlung zum Anti-Climacus 1849 noch zweimal benutzt werden.

Die Schaffensphase Kierkegaards begann 1843, zwei Jahre nach der Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen, die er 1837 im Alter von 24 Jahren kennenlernte. Das gescheiterte Verhältnis zu Regine Olsen, die 1849 Friedrich Schlegel heiraten wird, beeinflußt die Werke Kierkegaards, in dem sie ihn eigenes Erleben in seinen Werken verarbeiten läßt. Ein Indiz mag die Mehrdeutigkeit des Mottos der Philosophischen Bissen sein: »Besser gut gehängt, als schlecht verheiratet (Shakespeare)« (PB, S. 2.).

Nach zwölf Jahren, in denen er fortwährend Schriften veröffentlichte, stirbt der 42jährige Kierkegaard am 11. November 1855.

2. Der Begriff »Reue«

Nach der Exposition der Frage nach dem Lehrer-Schüler-Verhältnis zur Erlangung der Wahrheit, wird der Gott selbst als der Lehrer festgestellt und die Sünde als Zustand des Schülers, die Unwahrheit zu sein und es durch eigene Schuld zu sein, definiert. Die Überwindung dieses Zustandes aus eigenem Antrieb ist nicht möglich, da der Zustand dann ein Vergangener würde und nach der Befreiung spurlos verschwunden wäre.

»(...), und der Augenblick erhielte keine entscheidende Bedeutung; er [der Lernende] hätte sich in Unwissenheit darüber befunden, dass er sich selbst gebunden hätte, und nun würde er sich selber frei machen.« (PB, S. 15.)

Im Text folgt eine längere Fußnote, die zunächst ausführlich die Unmöglichkeit andeutet, eine Entscheidung zurückzunehmen, eine Wahl in der Vergangenheit zu beeinflussen:

»Und so gab es eine Zeit, da der Mensch zu demselben Preis die Freiheit und die Unfreiheit kaufen konnte, und dieser Preis war die freie Wahl der Seele und der Einsatz der Wahl. Da wählte er die Unfreiheit; wollte er aber jetzt zu dem Gott kommen und sagen, ob er sie nicht umtauschen könne, so wäre wohl die Antwort: es gab unleugbar eine Zeit, da hättest kaufen können, was du wolltest, aber es ist so seltsam mit der Unfreiheit, wenn man sie gekauft hat, so hat sie gar keinen Wert, obwohl man sie ebenso teuer bezahlt.« (ebd.)

Der Zusammenhang der Begrifflichkeit von Reue, Wahl, Möglichkeit und Notwendigkeit soll erst im zweiten Teil der Arbeit aus dem Werden und der Auffassung der Vergangenheit abgeleitet werden. Zunächst wird die Einbettung in den religiös-philosophischen Zusammenhang dargestellt.

Die Bestimmung des Augenblicks als von entscheidender Bedeutung wird dadurch expliziert: eben weil durch den Übergang oder die Umkehr von der Unwahrheit zur Wahrheit das Wissen um die ehemalige Unwahrheit manifest wird und nicht verschwinden kann, nennt Kierkegaard diesen Augenblick »vom Ewigen erfüllt« bzw. »die Fülle der Zeit« (PB, S. 17.).

»Insofern er durch eigene Schuld in der Unwahrheit war, kann es zu dieser Umkehr nicht kommen, ohne dass sie in sein Bewußtsein aufgenommen wir, ohne dass er sich dessen bewußt wird, dass es durch eigene Schuld so gewesen ist; und mit diesem Bewußtsein nimmt er vom Früheren Abschied. Aber wie nimmt er Abschied, wenn nicht mit Trauer im Herzen? Doch richtet sich diese Trauer hier ja darauf, dass er so lange in dem früheren Zustand gewesen war. Nennen wir eine solche Trauer Reue; denn was sonst ist wohl Reue, die zwar zurückblickt, aber doch so, dass sie gerade dadurch den Gang zu dem hin beschleunigt, was vorausliegt.« (PB, S. 18.)

Damit ist die erste Definition der Reue angegeben, die jedoch die gesamte Tragweite des Begriffs noch nicht erblicken läßt. Zunächst sind folgende wichtigen Inhalte festzustellen: die Reue ist nicht nur qualitativ auf den Zustand der Sünde überhaupt bezogen, sondern auch quantitativ auf die Dauer diese Zustandes. Diese unterschiedliche Stärke der Reue hat Folgen, die Scheier beschreibt:

»Indem sie [die Sorge] nämlich zurückblickt und sieht, wieviel Existenz schon als unsinnig akkumuliert ist, beschleunigt' sie das Unterwegssein auf das zu was vorausliegt. (...) Je stärker die Reue, desto stärker die Beschleunigung, die Kraft zur geforderten Entscheidung. Das ist die Rechtfertigung der Zeitlichkeit: der Unsinn ist in Reue umgekehrt, Motiv für das Festhalten der Möglichkeit des Sinns.« (Scheier, 1983, [3], S. 42.)

Den Übergang von Unwahrheit zu Wahrheit im Augenblick denkt Kierkegaard als Übergang vom Nicht-Sein ins Sein; da der Mensch aber bereits war bzw. geboren ist, wird er Wiedergeburt genannt. Diese Wiedergeburt ist, wie beim sokratischen Lehrer, dem Geburtshelfer zu verdanken, der der Gott selbst ist.

Im Kierkegaardschen Augenblick fallen also die einander ausschließenden Affektionen zusammen. Sie stoßen in der Gleichzeitigkeit im Gedächtnis zusammen und bringen damit ihre Unvereinbarkeit zu Bewußtsein: 'Ich habe gewollt und bin gewesen X - ich habe gewollt und bin gewesen nicht-X' (nach Scheier, 1983, [3], S. 43.). Dieses schmerzliche Gefühl schafft das religiöse Pathos, die Reue ist Antrieb und Auflösung gleichermaßen.

3. Die Begründung der Reue in der Kierkegaardschen Geschichtsauffassung

Im Zwischenspiel der Kapitel IV und V der Philosophischen Bissen findet sich die weniger religiöse, denn philosophische Begründung der Reue.

»Ist das Vergangene notwendiger als das Zukünftige? oder: Ist das Mögliche dadurch, dass es wirklich geworden ist, notwendiger geworden als es war?« (PB, S. 71.)

Damit ist die zentrale Frage des Zwischenspiels in einer zweifachen Form in der Überschrift gestellt. Innerhalb der Forderung im Zwischenspiel gerade 1843 Jahre, von Christi Geburt bis zum Werk Kierkegaards vergehen zu lassen, wird die Geschichte in ihrer Hinsicht auf das Werden, das Historische, das Vergangene und die Auffassung des Vergangenen ausgelegt. Dies ist nötig, um im Anschluß die Reue näher bestimmen zu können, ohne von in der Bestimmung liegenden Fragen behindert zu werden, da diese durch die folgenden Definitionen überflüssig oder unzulässig werden.

Das Werden ist der Übergang vom Nicht-Sein ins Sein, aber nicht dergestalt, dass Nicht-Sein nicht da wäre und vom Sein damit so verschieden wäre, dass keine Veränderung stattfinden könnte. Vielmehr ist das Sein, welches dennoch ein Nicht-Sein ist, als die Möglichkeit von Sein zu denken. Damit ergibt sich die Veränderung des Werdens als der Übergang von der Möglichkeit zu Wirklichkeit (PB, S. 72.).

Weiterhin wird die Beziehung des Notwendigen zum Werden ausgeführt: das Notwendige kann nicht Werden, da Werden eine Veränderung ist, das Notwendige aber kann sich schlechthin nicht verändern, da es gerade durch seine Notwendigkeit mit sich selbst identisch ist. Das Werden wird außerdem als Leiden bestimmt. Das Notwendige kann nicht das Leiden der Wirklichkeit leiden.

Die Wirklichkeit jedoch leidet unter dem Verlust der Möglichkeit im Werden. Das heißt, die Wirklichkeit hat nicht nur die Möglichkeit verloren, die sie nicht ist, sondern auch die Möglichkeit die sie selbst angenommen hat, da der Übergang des Werdens keine Möglichkeit mehr zuläßt, diese ist durch die Wirklichkeit vollständig vernichtet.

Kierkegaard unterscheidet die Notwendigkeit von Wirklichkeit und Möglichkeit dadurch, dass die Notwendigkeit eine Wesensbestimmung ist, während die beiden anderen Bestimmungen des Seins sind. Daher können die Begriffe nicht in Beziehung zueinander stehen.

»Das Notwendige steht ganz für sich; es wird schlechthin nichts mit Notwendigkeit, ebenso wie die Notwendigkeit wird, oder etwas, indem es wird, das Notwendige wird. Es ist schlechthin nichts da, weil es notwendig ist oder weil es das Notwendige ist. Das Wirkliche ist nicht notwendiger als das Mögliche, denn das Notwendige ist von beiden absolut verschieden.«(PB, S. 73.)

Dadurch erst wird es möglich, dass das Werden als Übergang durch die Freiheit geschieht. Die nun logisch notwendige Unterscheidung von Grund und Ursache schreibt dem Werden nur eine Ursache zu, die sich ihrerseits immer auf eine frei wirkende Ursache zurückführen läßt. Nur täuschende Zwischenursachen lassen das Werden als notwendig erscheinen.

Das Vergangene, das durch Veränderung zustande kam und nun unveränderlich ist, ist so keinesfalls notwendig. Die Unveränderlichkeit schließt auch eine Veränderung nicht aus, weil die Veränderung des Werdens nur durch ihre Beziehung auf die Zeit in die Unveränderlichkeit führt, selbst aber die Unveränderlichkeit nicht einschließt.

Die Notwendigkeit des Vergangenen ist auch dadurch ausgeschlossen, dass Vergangenes durch das Werden überhaupt geworden ist; da das Werden aber als nicht notwendig bestimmt ist, kann das Gewordene ebensowenig notwendig sein.

»Die Unveränderlichkeit des Vergangenen bedeutet, dass sein wirkliches So nicht anders werden kann, ergibt sich daraus aber, dass sein mögliches Wie nicht anders hätte werden können?«(PB, S. 76. Änderung des Satzzeichens von Punkt zu Fragezeichen von mir.)

Jetzt läßt sich die Potenz der Reue im Kierkegaardschen Sinne erkennen: sie will und kann die Wirklichkeit aufheben und dialektisch in die ehemalige Möglichkeit, die vor der Veränderung des Werdens lag, zurückführen. Dazu ist ein weiteres Organ der richtigen Auffassung der Vergangenheit nötig, das sie nicht als notwendig konstruiert, nur weil der Augenblick des Werdens für das Vergangene schon in der Ferne zurückliegt. Das Vergangene ist, da es in der Zeit dialektisch ist, mit der Doppelheit von Sicherheit und Unsicherheit versehen. Als Vergangenes ist das Gewordene sicher und zuverlässig, da es geschehen ist, aber dass es geschehen ist, ist seine Unsicherheit.

Diese Unsicherheit ständig bewußt zu machen, ist die Aufgabe des Organs, das uns zum rückwärts gerichteten Propheten werden läßt, der für die Vergangenheit sowenig Notwendigkeit wie für das Zukünftige zugrundelegt.

»Soviel ist also klar, dass das Organ für das Historische diesem gemäß beschaffen sein muß, das entsprechende in sich haben muß, wodurch es in seiner Sicherheit ständig die Unsicherheit aufhebt, die der Unsicherheit des Werdens entspricht, die eine zweifache ist: das Nichts des Nicht-Seienden, und die vernichtete Möglichkeit, die zugleich die Vernichtung jeder anderen Möglichkeit ist. Von einer solchen Beschaffenheit ist nun gerade der Glaube; denn in der Sicherheit des Glaubens ist als Aufgehobenes ständig die Unsicherheit vorhanden, die in jeder Hinsicht derjenigen des Werdens entspricht.«(PB, S. 80.)

Kierkegaard baut darauf, dass die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung nicht trügen kann. Er nutzt dies, um seinen Ausführungen die griechische Skepsis zugrunde zu legen, während er den Hegelschen Zweifel weit von sich weist. Nur den Zweifel, der durch den Willen zum Zweifel zweifelt, läßt sich durch einen Willensakt aufheben. Der Skeptiker bestreitet nicht die Richtigkeit der Wahrnehmung, weigert sich aber aus dieser einen Schluß zu ziehen. Gegen den Zweifel setzt Kierkegaard den Glauben als Akt-der-Freiheit bzw. Äußerung-des-Willens. Es ist gerade der Glaube, der mit seinem entgegengesetzten Willensakt, dem Zweifel, dieses Denken überhaupt ermöglicht. Scheier erklärt:

»Der Zweifel suspendiert das Mißverständnis und der Glaube den Zweifel, ist nur als dessen Suspension, löst ihn, anders als das cartesische Erkennen, nicht auf. Beide sind insofern entgegengesetzte Leidenschaften', aber doch nicht von gleichen Wert, die eine übergreift die andre. Der Glaube hält den Zweifel fest und nur dadurch sich selbst.«(Scheier, 1983, [3], S. 78.)

Die Reue wird so zum nötigen Denken der Existenz überhaupt, da alles Gegenwärtige, Vergangene und Zukünftige bloß Zufälliges ist. Damit es nicht als Bedeutungsloses untergeht, bedarf es im Glauben der Wiederholung der Vergangenheit. Die Zukunft bedarf der Freiheit, um die Möglichkeit von Möglichkeit zu schaffen. Reue heißt Wirklichkeit der Freiheit, Wirklichkeit der Freiheit Reue (Scheier, 1983, [3], S. 79.).

Der Kierkegaardsche Gedanke ist sorgfältig darauf bedacht, die Möglichkeit zu erhalten, stürzt damit aber zu leicht ins Zufällige und Bedeutungslose, daher muß er den Kampf von Zweifel und Glauben einführen, um einen Zusammenhalt herzustellen und zu erhalten.

4. Schluß

Die Kierkegaardsche Reue hat sich als Überwindung der Zeitlichkeit der Geschichte einerseits, als Überwindung der (scheinbaren) Notwendigkeit andererseits gezeigt. Damit sind die Voraussetzungen für das Individuum gegeben, mit seinen Handlungen, die es tatsächlich nicht mehr zurücknehmen kann, in dem Bewußtsein von Möglichkeit zu leben. Als ein Schlüssel für dieses Vorgehen hält Kierkegaard den Glauben bzw. dessen Wechselwirkung mit dem Zweifel bereit.

Dennoch findet auch unter weniger religiösen Aspekten ein Bedeutungswandel des Reuebegriffs statt. Um mit der Überzeugung und Leidenschaft einer Edith Piaf »Non, je ne regrette rien!« aussagen zu können, muß das Bereuen im Kierkegaardschen Verständnis gerade vollständig stattgefunden haben. Erst nach der Versetzung der Wirklichkeit in die Möglichkeit darf in Freiheit das landläufige »Je ne regrette rien!« gerufen werden, obwohl Kierkegaard weiß, dass das Gegenteil der Fall ist.

5. Literaturverzeichnis

I. Textgrundlage

II. Verwendete Literatur


Stefan Brix
sx@brix.de

Was macht
fuxia?

www.brix.de